Persönliche Freiheit im Discount


Die persönliche Freiheit gilt zu Recht als ein sehr hohes Gut – zumindest in Demokratien… Und mit hohen Gütern sollte man, sagen wir mal so: haushälterisch umgehen. Sonst landen sie irgendwann beim Discounter.

Mir scheint, dass zunehmend (vor-)schnell selbst für jeden noch so grossen individuellen oder auch gemeinschaftlichen Un-, manchmal auch Blöd-Sinn jede Art von Kritik daran postwendend mit dem immer mehr zum Allerweltsargument verkommenden „Nein! Verletzung meiner persönlichen Freiheit!“ gekontert wird.
Dass die persönliche Freiheit auch Grenzen hat und somit nicht bedingungslos eingefordert werden kann, gerät dabei offenbar immer mehr (und nur zu gerne) in Vergessenheit.

Nehmen wir als Beispiel die gegenwärtige Impfdiskussion:
Auch heute noch, im Sommer ’21 – zwischen 3. und 4. Corona-Welle (ja, sie wird kommen) – wird von den (sich selbst so nennenden) Impfskeptiker*innen eine Impfung verweigert und mit der persönlichen Freiheit rechtfertigt. (Konkrete und auch nur halbwegs fundierte, stichhaltige Argumente gegen eine Impfung werden in der Regel ja nicht aufgeführt.)
Wohlgemerkt: ich rede hier nicht von denen, die sich aus guten Gründen nicht impfen lassen können.

Lassen wir die mittlerweile klar belegten positiven Effekte auf individueller Ebene und für das Gesundheitswesen hier für einmal unerwähnt. Aber: mittlerweile spricht sehr viel empirische Evidenz dafür, dass schlussendlich zur Zeit nur Impfungen helfen, insbesondere die Entstehung weiterer Varianten zumindest zu bremsen. Als Alternative gibt es derzeit nur unvorstellbare, nur im äussersten Notfall und befristet vertretbare massivste Kontakteinschränkungen; viel einschneidender jedenfalls, als der Vorgeschmack, den wir in den letzten 18 Monaten schon bekommen haben.
Varianten, von denen derzeit niemand weiss, ob wir Menschen ihnen etwas in nützlicher Frist entgegenzusetzen haben, so es denn notwendig würde. Auch nicht, ob dann die bisherigen millionenfachen Impfungen noch etwas nützen würden – oder die ganzen Bemühungen schlicht verpuffen. Eher unwahrscheinlich auch, dass in diesem Fall die Staaten noch einmal die nötigen Mittel aufbringen könnten, um die wirtschaftlichen Schäden zumindest abzufedern.

Verkürzt und vereinfacht: je mehr geimpft sind, je kleiner die Auftretens-Wahrscheinlichkeit neuer Varianten. Und damit je kleiner die Notwendigkeit neuer – uns alle betreffenden – Einschränkungen. Denn Einschränkungen müssten ja für alle gelten, nicht nur für die Ungeimpften – die würden sofort „Diskriminierung!“ oder wie gehabt die Einschränkung der persönlichen Freiheit anprangern. (Wobei nebenbei bemerkt auch dieses Argument einer differenzierten Diskussion nicht standhält; aber lassen wir das an dieser Stelle.)

Vielleicht müssten die Geimpften und Genesenen langsam aber sicher etwas lauter als bisher das Argument der Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte auch für sich geltend machen und das Feld nicht einfach kopfschüttelnd den „Skeptiker*innen“ überlassen? Dadurch, dass es Impfunwillige gibt – und noch einmal: ich rede nicht von denen, die sich aus guten Gründen nicht impfen lassen können – müssen dann viele Menschen Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit hinnehmen, weil deretwegen – die nicht wollen – absehbar wieder allgemein gültige Anti-Corona-Massnahmen mit Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens getroffen werden müssen?

Es scheint, als ob ein Teil der Bevölkerung offensichtlich nicht verstanden hat – oder es nicht verstehen will – dass der Wert der persönlichen Freiheit nur dann weiter ein hohes Gut bleiben kann, wenn akzeptiert wird, dass die eigene nur bis dorthin geht, wo sie mit derjenigen des und der Nächsten kollidiert – und dass die persönlichen Freiheitsrechte der Geimpften, Genesenen etc. nicht weniger zählen als die der Impfunwilligen.


Nachtrag: November ’21 – vier Monate später:

Sie ist da, die vierte Welle, und wie.
Wie viele der Warnungen von Epidemiolog*innen und Infektiolog*innen wurden inzwischen in den Wind geschlagen – wenn nicht gar von Vertreter*innen mit militanten Extrem-Positionen ins Lächerliche gezogen. Nachdem mittlerweile auch herkömmlich entwickelte Vakzine verfügbar sind, die Impfquoten aber nicht steigen, entlarvt sich die oft vorgebrachte „Skepsis gegenüber mRNA-Vakzine“ als heisse Luft: offenbar nur eine faule Ausrede…
Das Virus hat sich jedenfalls nicht beeindrucken lassen und kehrt mit Macht zurück. Die Fallzahlen steigen wieder explosionsartig, die Ängste vor Überlastungen des Gesundheitssystems – Personal inklusive – sind bereits zur bitteren Realität mutiert. Wenn das – die Mutation – auch dem Virus gelingt, und das ist allen Erfahrungen nach hoch-wahrscheinlich – dann werden auch die Todesfälle in Verbindung mit Covid hochschnellen. Und damit nicht genug: es werden über kurz oder lang (ich vermute eher ersteres) erneut Einschränkungen des öffentlichen Lebens ergriffen werden müssen.
Wie tief muss muss man wohl den Kopf in den Sand stecken, um dieser – selbst- und mitverschuldeten! – ‚Misere‘ (um nicht drastischere Bilder zu verwenden) nicht in die Augen blicken zu müssen und sich weiter als Impfskeptiker*in vermeintlich profilieren zu können?


Nachtrag: Januar ’22 – weitere zwei Monate später:

Oha – wenn ich auf meinen November-Nachtrag schaue – mit welchen Worten kann der Anstieg der Fallzahlen jetzt zwei Monate später noch treffend beschrieben werden? Zum Glück – zumindest sieht es hierzulande im Moment noch danach aus – scheint die Omikron-Mutante zwar hochansteckend zu sein, aber grosso modo nicht zu schweren Verläufen zu führen.

Aber immerhin sorgt sie dafür, dass sehr viele Menschen krank zu Hause bleiben – oder bleiben müssen, und wenn es nur wegen der Quarantäne ist. Das Personal (auch in systemrelevanten Bereichen) wird knapp. Wie in anderen Ländern auch setzt das BAG die Quarantänezeit von 10 auf 7 Tage herab, nicht zuletzt, um der Wirtschaft entgegen zu kommen. Die Fallzahlen steigen rasant weiter. Und siehe da: jetzt plötzlich treten der Wirtschaftsdachverband, wie auch einige Gastgewerbeverbände auf den Plan und empfehlen dem BAG resp. den Fachgremien mit Verweis auf Studien, welche Empfehlungen auszusprechen wären.

(Wie laut wäre das Geschrei wohl, wenn Fachfremde umgekehrt den Restaurant- und Hotelbetreiber*innen, oder der fabrizierenden Industrie unter Ausblendung aller anderen Faktoren erklären würden, wie sie ihre Betriebe richtig zu führen hätten, auf welche Studienerkenntnisse sie jetzt gefälligst ihre Entscheide abzustellen hätten?)

Abgesehen davon: zu was für einem Röhrenblick muss man fähig sein, um alles andere ausser Acht zu lassen und exklusiv den eigenen kurzfristigen Interessen das Wort zu reden? Verkürzte man die Quarantäne weiter, hätte die Wirtschaft kurzfristig vielleicht ein paar (kranke) Arbeitskräfte mehr; hochwahrscheinlich ist es in einer Virus-Epidemie (mit schnell wechselnden Varianten) aber, dass in der Folge noch mehr Leute krank erkranken und folglich daheim bleiben würden. Mit etwas Pech bestimmen weniger „harmlose“ Varianten das epidemischen Geschehen…

In Konsequenz müssten die Verbände eigentlich ehrlicherweise fordern, dass man komplett auf jede Quarantäne verzichtet. Und am besten gleich generell jeglichen Gesundheitsschutz aufhebt. Auch Kranke können schliesslich arbeiten. Und kranke Mitarbeitende können sich die hocheffizienten Betriebe schon gar nicht leisten!
Das gilt dann natürlich auch noch nach der Pandemie…



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